Thomas Behling

Thomas Behling. Die Moral von der Geschichte. nwwk.

Dr. Rainer Beßling
Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Die Moral von der Geschichte verstehe ich mitnichte" im nwwk / Neuer Worpsweder Kunstverein am 5.2.2023

Hätte heute jemand gezielt die ersten Reaktionen des Ausstellungspublikums beobachtet, wäre vermutlich ein breites Spektrum herausgekommen: Erstaunen, Irritation, Schmunzeln, Zustimmung, die eine oder andere in Falten gezogene Stirn. Wir schauen unterschiedlich auf Kunst - das ist eine Binsenweisheit. Das liegt nicht nur an der Kunst, sondern an den Einstellungen, die sie wachruft. Diese sind uns nur selten bewusst. So blicken wir auf Kunst auch wie in einen Spiegel. Thomas Behling spielt virtuos damit, und das auf mehreren Ebenen: Er konfrontiert uns mit Werken, die vieles sind, nur nicht eindeutig. Er lässt Kunst auf Kunst treffen, Epochen auf Epochen, Stile auf Stile, Medium auf Medium. Er inszeniert mit scheinbar Bekanntem und in schrägen Beziehungen funkelnde Verunsicherungen. Wenn heute viele zu wissen meinen, was Kunst sei und welche Aufgabe sie zu erfüllen habe, stellt Behling hinter ästhetische Schaffens ein großes Fragezeichen. Dabei ist es dem Künstler mit seinem Formenspiel maximal ernst. Dieser Krisenglobus benötigt Überlebenslösungen, kreative und produktive Debatten, und die vorliegenden Erkenntnisse müssen endlich in Handeln umschlagen.

Ein erster Blick in die Ausstellung könnte den Eindruck einer historischen Schau vermitteln: Goldrahmen, romantische Landschaftsmotive, ein Tabernakeln ähnliches Kästchen. Die Vitrine umschließt ein befremdliches Objekt: einen abgetrennten Unterarm mit abgeschnittenem Zeigefinger, fast wie in einem anatomischen Kabinett. Es repräsentiert nicht nur ein Körperteil, sondern auch eine konservierte Geste aus früheren Zeiten. Da forderten noch Obrigkeiten Aufmerksamkeit, Sitte und Anstand ein.

Insgesamt zeigt sich ein breites mediales und stilistisches Spektrum mit einem dominierenden Thema. Abgestorbene Bäume, verkümmerte Wälder, Autobahnen mit dichtem Verkehr inmitten begrünter Hügel: Landschaft im Stress, Natur im Überlebenskampf. Die Motive in den Gebrauchs- und Alterspuren tragenden Rahmen verbreiten einen Hauch von Nostalgie. Doch die Bilder sind weit entfernt von Verklärung oder biedermeierlichem Rückzug. Sie bedienen sich nur historischer Bildsprache und verstören damit um so mehr. Und sind nicht die mit Patina besetzten Rahmen Verkleidung? Was ist eigentlich gemalt und von wem, was Unikat, was Original? Ist das Fundstück nur Inszenierung?

Wald ist hier nicht Refugium und auch nur prekäre nationale Identität. Vielmehr ist er Zentrum eines Verfalls, Sinnbild des Verlusts von Lebensraum und Lebensgrundlage. „Kurzsicht schafft mehr Weitsicht“ betitelt Behling mit beißender Ironie die Darstellung einer hügeligen Waldidylle. Kreuze markieren Holzschlag. Wald heißt Forstwirtschaft. Sicher, für ein Fällen gibt es auch naturgemäße Gründe. Doch Baumschwund spiegelt nicht zuletzt die fehlgeleitete Entwicklung vom Wald zur Plantage, die einseitig ökonomisch orientierte Nutzung der Ressource Holz. Und er dokumentiert die Ausrichtung auf Monokulturen für verengte rasche Verwertung, die den Baumbestand dem Klimawandel hilflos ausliefert.

Viele Bilder Behlings zitieren Ausstattung von Gläubigkeit, Bilder von Heimattümelei, Naturidylle und häuslichem Frieden. Sie besetzen diesen verbrauchten spirituellen und kulturellen Raum mit Szenen von heute. Sie greifen die metaphysischen Interieurs vergangener Epochen auf um sie als Ideologie kenntlich zu machen und zugleich in eine Bühne für die aktuellen Desaster zu verwandeln. Religion und schöne Künste fungierten im historischen Alltag (auch) als Fluchtvehikel und Droge. Behling nimmt das ernst, er will nicht entlarven, er will Gläubige nicht beschämen und selbst Kitsch tritt bei ihm in mildem Licht auf. Er ist an der Wirkung stofflicher und sinnlicher Präsenz von Kunst als Kult und Ritual interessiert, die er in seinen Kontextverschränkungen und Perspektivenverschiebungen sichtbar werden lässt.

In Darstellungen des Personals christlichen Glaubens haben sich Fruchtaufkleber eingeschlichen, die teils Leerstellen bilden, teils Etikettierungen ausweisen ("Pink Lady" und "Ready to eat"). Wie lässt sich diese Intervention verstehen? Im Label wird die Frucht zur Ware. Das Etikett stülpt ihr den ökonomischen Nutzwert über. Sicher gibt es viele Lesarten, bestimmt löst dieser Einzug des Handels in das Heilige unterschiedliche Empfindungen aus. Mir fiel als erstes das problematische Dogma der christlichen Religion ein, der Mensch solle sich die Erde untertan machen. Natürlich ist Natur nicht reine Idylle, aber den Bezug zu ihr nicht als Zusammenspiel sondern als Beherrschung zu sehen, führt an Kipppunkte, die wir aktuell ansteuern. Behlings Arbeit mit dem Titel „Karte von Berlin“ wirft - für manche provozierend, für nicht wenige modellierende Wissenschaftler allerdings faktenbasiert - einen Blick auf die deutsche Hauptstadt nach dem Abschmelzen der Pole, eine Stadt-/Land-/ Fluss-/Flutfläche.

„Selbsterkenntnis“ nennt Behling ein Objekt, in dem sich Boden und Decke in einem verglasten Raum unendlich selbst spiegeln. In diesem gekippten Spiegelkabinett mit der Form eines Schreins bleiben die Betrachtenden außen vor. Sie finden allenfalls als schwache Schatten Einlass in das sich selbst genügende Gehäuse. Wird hier die Begrenztheit der menschlichen Reflexion umspielt? Reicht unser Denkvermögen letztendlich doch nicht aus, um uns unserer Haltungen und Handlungen bewusst zu sein? Das Grundthema ist in unendlichen Motivvarianten erzählt und mündet in offene Fragen. Sind wir Plünderer des Baums der Erkenntnis, sind wir Zauberlehrlinge in der Lage, die Büchse der Pandora im Notfall wieder zu schließen? Oder verheddern wir uns ausweglos in der Nabelschau des eigenen Nutzendenkens und der technischen Rationalität?

Der in schwierigen Zeiten - wann waren die Zeiten eigentlich nicht schwierig - ausgerufene „Neue Mensch“ wird zumeist als zukunftsorientiert, moralisch überlegen, aufbruchsbesessen und innovationsberauscht dargestellt. Behling macht die Kollateralschäden manch alten neuen Denkens in ironisch adaptierter Agit-Prop-Ästhetik sichtbar: Abgase lassen das Gehirn schrumpfen, die mobile Revolution lässt die Menschen im Rückwärtsgang landen ("Der Neue Mensch. Anbruch einer neuen Zeit").

In dieser Ausstellung sind Kontrast und Reibung zwischen Epochen und Denkbildern, zwischen verschiedenen Akteuren und Gruppierungen förmlich mit den Händen zu greifen. Aus den vermeintlichen und wirklichen Fundstücken weht ein Wind, der mit der Industrialisierung entfesselt wurde und der vor dem Horizont der Zukunftsstürme mit den Krisen und Konfrontationen der Gegenwart zum Orkan heranwächst. In den aktuellen Grabenkämpfen gehören historische Parallelisierungen zu den bevorzugten rhetorischen Waffen. Die Aktivistinnen und Aktivisten der „Letzten Generation“ werden nicht nur an der rechten Flanke der deutschsprachigen Medienwelt als „Klima“-RAF adressiert. Eine abstruse Gleichsetzung von Protest und tödlichem Terror, welche die gesellschaftliche Debatte über den Klimawandel radikalisiert und emotionalisierte Frontstellungen weiter aufheizt. In seiner Arbeit „Die grüne Gefahr“ zitiert Behling ikonische Plakatpropaganda gegen die UdSSR, gegen die Rote Armee, gegen den Kommunismus im Deutschland der 1910er bis 1940er Jahre bis zum sogenannten Kalten Krieg. Die historisierende Bildsprache treibt der Künstler durch seine die kyrillische Schrift nachahmende Typographie weiter ins Ironische und in die Karikatur. Die Formel von der „grünen Gefahr“ kann nicht ernst genug genommen werden. Eine Partei, eine politische Haltung und eine ökologische Bewegung werden in analogen und sozialmedialen Debattenräumen verunglimpft. Die subtilere Variante ist, den Kampf gegen die Klimakatastrophe als Gefährdung der demokratischen Spielregeln und der Aushebelung individueller Freiheitsrechte sowie als Untergrabung des Wohlstands zu markieren. So stehen sich eine zum Teil lähmende Katastrophierung und eine polemisierende Brandmarkung gegenüber. Für inhaltliche Auseinandersetzung, für einen Austausch von Argumenten bietet das keinen Raum. Der Furor tritt auf der Stelle.

So sehr der Aktivismus der „Letzten Generation“ als radikaler Weckruf - und nur radikale Rufe wecken wirklich - seine Berechtigung hat, so sehr sollten auch seine Nebenwirkungen realisiert werden. Die Behauptung der künftigen Klimakatastrophe, die Beschwörung des Weltuntergangs hat apokalyptische,mithin krypto-religiöse Züge, die Vernunft vergiften. Das setzt tendenziell einen pragmatischen, rationalen Umgang mit der Krise aus. Angesichts der behaupteten Dimensionen der Gefahr erscheinen auch die radikalsten Maßnahmen legitim. Jedes bedachte, auf demokratischen Diskursen und Debatten fußende, jedes vermittelnde und ausgleichende Handeln werden als zögerlich, damit gefährlich und unverantwortlich gebrandmarkt. Wer innerhalb des parlamentarischen und verfassungsrechtlichen Rahmens handelt, erscheint schon als korrupt.

Eines der jüngsten Bilder Behlings, das es leider nicht in die Ausstellung geschafft hat, zeigt eine erschreckt blickende Wurst, deren Furcht ein Satz am oberen Bildrand erklärt: „Armes deutsches Würstchen soll weniger Regenwald essen.“ Kaum ein anderes Thema ist momentan so moralgetränkt wie die Ernährungsfrage. Hier stehen sich bis in Freundeskreise Fleischverzicht und Fleischfreude gegenüber. Da werden individuelle Entscheidungen als Kampfansagen verstanden. Tierethik versinkt im galligen Sumpf wechselseitiger Denunzierung.

Von moralisierenden Ab- und Ausgrenzungen, vom Verfestigen der Deutungshoheiten und einer medial basierten Lagerbildung profitiert eine blaue Gefahr, und zwar in mehrfacher Hinsicht. „Die Alternative für Deutschland ist blau“ ist auf einem Blatt Behlings zu lesen. Es zeigt die Landesfläche in den Nationalfarben, wobei das schwarze Band schon fast überdeckt ist von blau. Die Darstellung visualisiert das Modell eines Meeresspiegelanstiegs von 60 Metern. Bei einem vollständigen Abschmelzen beider Pole würde sich der Meeresspiegel nach Ansicht der Forschung um circa 67 Meter erhöhen. „Ein Szenario“, wie Thomas Behling zu seiner Arbeit schreibt, „das mit der Klimapolitik nicht nur der faschistischen AfD, die jeglichen Klimaschutz ablehnt, durchaus wahrscheinlich ist, sondern leider auch mit der laschen Klimapolitik der meisten anderen Parteien.“

Das programmatische Werk dieser Ausstellung, ich habe es anfangs schon erwähnt, trägt diesen merkwürdigen Titel, der die Schau schon historisch imprägniert: „Die Moral von der Geschichte verstehe ich mitnichte“. Das klingt zu Beginn nach Wilhelm Busch und seinen lehrhaften Bilderzählungen, aber was ist mit dem Unverständnis gemeint? Das Objekt selbst trägt in seiner gedrechselten Bauweise und hölzernen Materialästhetik den Geschmack von vorgestern. Es erinnert an Ritual, Kult und sakralen Kontext, wirkt überlebt und abgelegt, bestenfalls wie ein museales Schaustück.

Im Schränkchen befindet sich ein aufrechter Unterarm. Die Hand weist nach oben. Der Zeigefinger ist abgeschnitten, wird aber von der Hand in die Höhe gereckt. Ein erhobener Zeigefinger, in der Kunstgeschichte vielfach präsent, steht traditionell für einen mahnenden Appell, für einen Wink auf Werte, die sich oft aus Anekdoten ablesen lassen. Als körperliche Sprachhandlung ist der Zeigefinger lange schon verpönt. Bereits die Aufklärung stemmte sich gegen ein Moralisieren, das Kirchen und weltliche Herrscher zur Festigung ihrer Macht nutzten und setzte Vernunft basierte Werte dagegen, allerdings kaum weniger lehrhaft und weltfern in ihrer strengen Rationalität. Die Revolten und Rebellionen der Moderne führten die Befreiung des Individuums aus den Maßregelungen der Autoritäten und den Zwängen der Konventionen weiter.

Der abgetrennte Zeigefinger steht für den Cut mit dem Regime der disziplinierenden Wertediktatur. Vielleicht auch dafür, dass sich der Künstler selbst jede Moralisierung versagt? Aber wofür steht das Aufrichten des amputierten Fingers? Eine Reanimierung der mahnenden und warnenden Geste? Der Finger zeigt an die Decke des Schränkchens, an der sich eine malerische Darstellung der Weltkugel befindet. Die Erde hat sich darin verändert. Frankreich und Deutschland haben große Fjorde, von den Niederlanden ist kaum mehr etwas übrig, die Krim liegt in der Mitte des Schwarzen Meeres. Das Bild ist eine Projektion in eine mögliche Zukunft nach der Schmelze fast aller Eismassen infolge einer nicht gestoppten Erderwärmung. Der Meeresspiegel ist wie in der Berlin-Karte um 60 Meter gestiegen, weite Erdmassen sind überspült oder abgetragen.

Behlings Miniatur-Malerei an der Decke des Objekts lässt an historische Bilder des Firmaments denken. Der Himmel galt als Ursprung der Wetter und als Sitz der Götter, jener Mächte also, denen der Mensch dem alten Glauben entsprechend ausgeliefert war. Es gibt die Meinung, dass der Klimawandel eine Naturerscheinung sei. Das Gros der Wissenschaftler allerdings betrachtet ihn als menschengemacht. Schon mit seinem ersten Auftreten in der Geschichte hat die Spezies Mensch die Welt den biblischen Erzählungen zufolge ruiniert. Mit seinen anhaltenden und zunehmenden Eingriffen in die Natur trägt der Mensch nun auch die Verantwortung für sie. Keine himmlische Macht, nur er kann die drohende Katastrophe abwenden. Versteht und schultert er aber die Verantwortung, die Geschichte und Gegenwart auf seine Schultern gelegt haben? Ist die heute dominierende Gesellschaftsform, mit der die Geschichte vermeintlich an ihr Ende gelangt ist, ethisch gefestigt und mit der parlamentarischen Praxis der Entscheidungsfindung in der Lage, die dringlichen Umweltprobleme zu lösen? Oder bedarf es wie in der Pandemie einer durch den Ausnahmezustand legitimierten Autokratie, also eine entfesselte Exekutive, um das Klimaruder herumzureißen?

Der gereckte und gekappte Zeigefinger ist ein starkes einprägsames Zeichen. Mit ihm lässt sich direkt an aktuelle Moraldebatten andocken. Moral und in deren Gefolge Etikettierung, Abkanzelung, Beschämung, Kränkung stehen derzeit hoch im Kurs und scheinen vernunftbasierte Debatten - nicht zuletzt durch sozialmediale Befeuerung - abgelöst zu haben. Die Selbstermächtigung des einzelnen im Kampf um die Deutungshoheit ist an die Stelle des herrschaftsfreien Diskurses getreten, für den der Sozialphilosoph Jürgen Habermas unermüdlich wirbt. Moralisierung mit dem Ziel der Selbstermächtigung ist nicht an Partizipation und Reform des Bestehenden interessiert, sondern fordert Selbstbestimmung für das eigene Ich: hier, jetzt und sofort. Moral ist das Ergebnis von Sitten und Gebräuchen, in die der Mensch hineinwächst und die ihm auferlegt oder verordnet werden. Ethik ist nicht nur die Theorie und Lehre von der Moral, sondern auch die Summe von Haltungen und Handlungen, zu der der Mensch in Auseinandersetzung mit dem Vorgegebenen, seinen Mitmenschen und seinen eigenen Anschauungen gelangt. Dies verlangt Kommunikation. Die Summe dieser Kommunikation könnte eine Navigation für das individuelle wie auch das gesellschaftliche Handeln ergeben.

Kommunikation basiert auf Sprache. Sprache soll der Wirklichkeit nahekommen. Momentan scheint sie aber mit einem Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsanspruch überbeansprucht zu werden. Irren muss erlaubt sein, Meinungen müssen nicht allen gefallen. Derzeit wird Sprache mit Emotionen, Etikettierungen und Erwartungen aufgeladen. Sprache wird auf entlarvende Vokabeln abgeklopft, ohne deren Bedeutung zu debattieren. Kleine Kreise dominieren den öffentlichen Diskurs zumindest in klassischen kulturellen Institutionen und Medien. Communities tauschen sich in selbstverstärkenden Bezirken aus. Sprache wird zum Instrument der Überwältigung, zum Bollwerk gegen Andersdenkende. Sie wird ihrer Möglichkeiten als Verständigungsmittel beraubt. Dass Kunst auch das Unaussprechliche sagen können darf, ja sogar sagen muss, scheint ausgeblendet. Ist uns das Vermächtnis der Aufklärung in diesen verhärteten Zeiten eigentlich noch präsent und verfügbar? Nicht obrigkeitliche, lediglich mehrheitlich legitimierte oder von Eliten verbreitete Werte dürften danach alleinige Geltung haben. Normen sollten auf Augenhöhe von allen frei ausgehandelt werden, wobei das bessere Argument zählt und nicht die öffentliche, mediale Durchschlagskraft. Auch wenn Freiheit und damit Entscheidungsmacht des Individuums ein hohes Gut sind, scheint ein Zusammenleben in einer Gesellschaft oder einem Kulturkreis ohne einen verbindlichen Referenzrahmen schwer vorstellbar. Aber wo lässt sich ein solcher erkennen, wie sollte er ausgestaltet sein, wie ist er zu erlangen und wer ist daran beteiligt, ihn auszuhandeln?

Behlings Position ist aktuell und brisant. Der Künstler greift nicht nur die gegenwärtigen Debatten um die großen gesellschaftlichen und politischen Themen auf, sondern thematisiert auch auf anschauliche Weise das Verhältnis zwischen Kunst und politischer Praxis. An seinen Arbeiten lässt sich über den Zusammenhang zwischen formal-ästhetischen Lösungen auf der einen sowie politischer Haltung und Aktion auf der anderen Seite debattieren. Der Künstler tut dies, ohne eine fertige Lösung bereitzustellen und ohne dass die Kunst mit ihren Kernkompetenzen von Anschauen, Zeigen und Fragen in den Hintergrund rückte.

Welche Wirksamkeit kann Kunst auf den Feldern der Realpolitik entfalten? Eine Kunst, wie Behling sie versteht und entwirft, begnügt sich nicht mit anschaulicher Diagnose und aufrüttelnden symbolischen Kommentaren. Sie will real Einfluss nehmen. Dabei verbirgt der Künstler nicht, dass er in dieser grundlegenden Reflexion seines Tuns und seiner Profession selbst eher noch fragt als antworten kann, dass er sich der Funktion und der Resultate seiner künstlerischen Aktionen unter dem Dringlichkeitsdruck der Klimakatastrophe keineswegs sicher ist. Wie geht der Künstler mit der hochfrequenten Berichterstattung um, mit dem Wissen, dass 2022 das Jahr der Klimaextreme war, dass die derzeitige Konzentration von CO2 und Methan laut fachlicher Expertise die höchste seit Jahrtausenden ist? Behält er noch Abstand und Überblick, kann er einschätzen, was tatsächliche Ereignisse und wahrscheinliche Szenarien sind? Aber muss er das als Künstler oder kann er nicht auch ungefiltert und unabgesichert seiner Angst und Empörung Ausdruck verleihen? Welche Verantwortung trägt er im Debattenraum? Kann er nicht Zweifel an Hölderlins Formel anmelden, dass in der Gefahr auch das Rettende wächst? In welcher Weise trägt Kunst produktiv und originell zum Diskurs über den Klimawandel, vielleicht sogar zum Bewusstseinswandel und zur Transformation der Energiepolitik, also konkret zum Kampf für klimaneutrale Arbeits- und Lebensweisen aber auch der individuellen Alltagsgestaltung bei? Wie wirken ästhetische Strategien und rationale Diskurse über das Thema zusammen? Kunst hinterlässt Betrachtende mit Fragen. Wenn sie nur aufgesammelte Antworten illustriert, welche die künstlerische Autorenschaft überblendet, macht sie sich überflüssig.

Rainer Beßling